Rede des Historikers Dr. Hartmut Kohl

Rede des Historikers Dr. Hartmut Kohl

(Professor emeritus der Universität Mainz)
am 18. Juni 2015 in der Paulskirche in Frankfurt/Main zum zweihundertsten Gründungsjubiläum des Deutschen Bundes

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Seit 100 Jahren herrscht in Europa Frieden, eine Errungenschaft, die für die heutigen Menschen auf unserem Kontinent so selbstverständlich ist, dass niemand mehr sich der Gräuel erinnern kann, die der Kampf Mensch gegen Mensch, Nation gegen Nation früher in regelmäßiger Folge das Leben von Millionen und den Wohlstand ganzer Völker vernichtete.

Es gab in der Geschichte Philosophen, die den Streit zwischen den Völkern, den Krieg, als den normalen Zustand betrachteten, und wenn man in die Jahrhunderte zurückblickt, in denen Menschen ihre Geschichte aufgezeichnet haben, sei es auf Tontafeln, Papyrus oder elektronische Speichermedien, so muss man eingestehen, dass an dieser Ansicht etwas Wahres ist.

Wenn wir heute über die Grenzen unseres mit Frieden gesegneten Kontinents hinausblicken, können wir befriedigt feststellen, dass auch anderswo allmählich Kriege der Vergangenheit angehören und es allenfalls noch kleine, wenn auch blutige Scharmützel meist ideologischer Natur weitab von uns gibt. Doch lassen Sie uns nicht überheblich sein – dieser Friede ist uns nicht in den Schoß gefallen, ist nicht etwa eine logische Konsequenz der Entwicklung, sozusagen das Produkt einer aufgeklärten Gesinnung, die den Kampf mit Worten um die richtige Entscheidung dem mit Feuer und Schwert vorzieht.

Nein, lassen Sie uns dem Schicksal und unserem Schöpfer danken, dass diesem Kontinent zum richtigen Zeitpunkt Männer und Frauen beschieden waren, die mit Mut und Weitblick um die richtigen Entscheidungen gekämpft und die Gegner ihrer Ideen überzeugt haben.

Der letzte Krieg auf deutschem Boden liegt heute exakt 140 Jahre zurück. Die siegreiche Armee des Norddeutschen Bundes hatte die Armeen Österreichs besiegt, und nach der damals weithin herrschenden Logik des Handelns hätte der Sieger nun seinen Frieden diktieren, den bezwungenen Gegner in die Knie zwingen, ihm Reparationen und Gebietsforderungen aufdrücken und damit den ewigen Kreislauf von Sieg und Niederlage wieder einmal in Gang setzen können.

Dass der damalige Reichskanzler Bismarck sich gegen den Willen seines Kaisers, seiner eigenen Partei und der überwiegenden Volksmeinung durchgesetzt und Österreich die Wahrung des Status quo zugesagt hat, war eine Meisterleistung an Weitblick, wenn auch durchaus mit wohlerwogenem politischen Kalkül.

Kriegsziel des Norddeutschen Bundes war, zumindest berichten das die Chroniken, der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation durch die Armeen Napoleons im Jahre 1806 die völlige Loslösung »Deutschlands« – das ja damals nur eine Idee, keineswegs politische Realität war – aus dem Verbund des Reiches folgen zu lassen.

Dass Bismarck und seine Ratgeber eine Lösung fanden, die Österreich das Gesicht wahren ließ, die Habsburger Monarchie im neu gegründeten Süddeutschen Bund erhielt und dem neu gestalteten Norddeutschen Bund formale Gleichstellung sicherte, ebenfalls als Kaiserreich, wenn auch de facto als Hegemonialmacht, war eine kaum nachvollziehbare Meisterleistung der Kabinettsdiplomatie.

Die dabei entstandenen Verfassungen beider Staatswesen und der Bündnisvertrag, der die beiden aneinanderkettete, waren und sind so kompliziert, dass damals kaum jemand daran glaubte, dass sie auch in der Praxis funktionieren würden – dass sie es dennoch tun, ist ein Tribut an die politische Reife unseres Staatswesens und den Weitblick der Väter jener Vertragswerke.

Beinahe hätte ich gesagt Väter und Mütter, wie dies heute die politische Korrektheit erfordert – doch von einer Gleichberechtigung der Geschlechter war man damals noch ebenso weit entfernt wie von sozialer Gerechtigkeit im heutigen Sinne.

Diese begann als zweiter Baustein im Fundament unseres heutigen Friedens Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als Preußen die allgemeine Krankenversicherung einführte – zunächst nicht als soziales ›Geschenk‹ an die Massen, sondern als Mittel zur Abwehr des aufkeimenden Sozialismus, den Bismarck stets als Grundübel betrachtete, ohne zu erkennen, das ein Staatswesen ohne soziale Gerechtigkeit dem Untergang geweiht ist.

Österreich zog wenige Jahre später nach, und heute gibt es im ganzen Deutschen Bund niemanden, der sich nicht hundertprozentig auf das Funktionieren eines engmaschigen sozialen Netzes verlassen kann. Dass die mit uns in der Europäischen Föderation verbundenen Nachbarländer inzwischen diese Regelungen weitgehend ebenfalls übernommen haben, sei an dieser Stelle nur nebenbei erwähnt.

Ich laufe jetzt Gefahr, als blinder Verteidiger Bismarcks betrachtet zu werden, wenn ich auch noch seine kluge Politik nach dem siegreichen Abschluss des so genannten Sechstagekrieges zwischen dem Deutschen Bund und Frankreich lobe, eine Politik, die zweifellos auch stark dem Einfluss Kaiser Friedrichs III. zuzuschreiben ist, Tatsache ist aber, dass mit diesem kurzen unblutigem Sieg die Grundlagen für die spätere europäische Einigung und schließlich die Gründung der Europäischen Union gelegt wurden.

Und diesem Kaiser, der 1878 nach dem Tod seines Vaters durch die Kugel eines Attentäters die Kaiserwürde erlangte, ist es geschuldet, dass Deutschland schließlich eine echte konstitutionelle Monarchie mit vollen demokratischen Rechten seiner Bevölkerung wurde. Bedenkt man dann noch die Rolle, die dieser Monarch, nicht zuletzt auch dank familiärer Bande zum britischen Königshaus, im Interessenausgleich zwischen der neu entstanden europäischen Hegemonialmacht Deutscher Bund und dem damals noch existierenden Britischen Empire spielte, so wird ihm niemand seinen Platz unter den Vätern Europas neben Bismarck, Rathenau und de Gaulle streitig machen …

Dieser Beitrag wurde unter Eigene Romane, NEBENWEIT veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Hinterlasse einen Kommentar